Gerhard Milchram

Kurator

Vorgestellt 28 │ Oktober 2021

 

 

Du hast Dich sehr früh auf die jüdische Geschichte spezialisiert, unter anderem als Kurator am Jüdischen Museum in Wien gearbeitet. Wie kam es dazu?

Das ist eine lange Geschichte. Kurzgefasst: Ich habe längere Zeit in Israel gelebt. Zuerst in einem Kibbuz im Norden Israels und danach in Jerusalem in einem Altersheim gearbeitet. Bei einem zweiten Aufenthalt 1989 habe ich dann mit Überlebenden einer österreichischen jüdischen Gemeinde in Israel zeitgeschichtliche Interviews gemacht.

 

Welche Gemeinde war das?

Neunkirchen in Niederösterreich. Daraus wurde meine Diplomarbeit und ich letztendlich Kurator für jüdische Geschichte.

 

Hast Du selbst jüdische Wurzeln?

Nein, gar nicht. Es war unglaublich eindrucksvoll, mit den ehemaligen Neunkirchner:innen in Israel zu sprechen. Ich hatte das Gefühl, auf eine gewisse Art und Weise haben sie immer auf das Gespräch gewartet. Dass sich jemand für sie interessiert. Stark gefühlt habe ich auch ihre Sehnsucht nach ihrer Jugend, nach ihrer alten Heimat. Zu der sie aber nicht zurückkehren wollten oder konnten. Daher fühlte ich die Verpflichtung, ihre Geschichte zu schreiben.

 

Dein Arbeitsbereich hat sich hier im Wien Museum dann doch deutlich erweitert.

Ein Bezug ist geblieben, ich bin hier auch für die Restitutionsforschung mitverantwortlich, die ganz schön viel Arbeitszeit belegt. Aber auch viel Freude macht: Wenn wir nach oft langwieriger Recherche mit Menschen in Kontakt treten, die manchmal völlig überraschend erfahren, dass es hier im Wien Museum etwas gibt, auf das sie Anspruch haben.

 

Gab es jüngst einen Restitutionsfall?

Ja, einen sehr komplizierten, die Uhren des Alexander Grosz. Das war ein jüdischer Uhrmacher aus Novi Sad, eine ganz wichtige Persönlichkeit in der Wiener Szene, auch mit dem Uhrenmuseum eng verbunden. 1938 musste er das Land verlassen, sein Geschäft wurde liquidiert, der Leiter des Uhrenmuseums hat sich 70 seiner Uhren unter den Nagel gerissen. Obwohl er über Grosz‘ Notlage genau Bescheid wusste.

 

Wann wurden die Uhren den Erben zurückgegeben?

Vor drei Jahren. Es war extrem schwierig, die Erbberechtigten aufzutreiben. 40 Uhren konnten wir zurückgeben, die anderen waren im 2. Weltkrieg verloren gegangen.

 

Ein gutes Gefühl?

Ja auf jeden Fall. Es ist nicht so, dass man dadurch Unrecht wieder gut macht, aber es ist wichtig und richtig, sich mit dieser Geschichte auseinanderzusetzen.

 

Du betreust auch die Bereiche Politische Geschichte nach 1918 und Zeitgeschichte sowie Migration. Für die neue Dauerausstellung bist Du konkret für das Zeitkapitel 11, also die Zeit von 1938 bis 1945, verantwortlich.

Gemeinsam mit Niko Wahl, der ja über eine große Expertise verfügt.

 

Welche Fragestellungen habt Ihr für das Thema Nationalsozialismus in den Vordergrund gestellt? Was sind Eure Erzähllinien?

Nachdem wir mit der neuen Dauerausstellung ja die ganze Geschichte Wiens von der Frühzeit bis ins Heute abdecken, stehen für die einzelnen Zeitabschnitte nur begrenzte Flächen zur Verfügung. Damit war klar, dass wir uns auf das Wesentliche der NS-Zeit konzentrieren müssen. Dass der Nationalsozialismus versucht hat, einen „rassenreinen“ Staat zu schaffen, in dem alle nicht „Reinrassigen“ ausgeschlossen und zu Menschen zweiter Kategorie und rechtlos wurden. Und dass dabei Wien zu einem Hotspot, zu einem Labor der Unmenschlichkeit geworden ist.

 

Hat sich Wien tatsächlich an Unmenschlichkeit besonders hervorgetan?

Es kam noch in der Nacht vom 11. auf den 12. März 1938 zum sogenannten Anschlusspogrom, Menschen wurden auf die Straße gezerrt, geschlagen, gedemütigt. Nachbarn haben Wohnungen geplündert, Geschäfte wurden ausgeraubt – so brutal und ungehemmt, dass die NS-Machthaber um ihren Beuteanteil fürchteten und Mühe hatten, diese Beraubungen in „geordnete“ Bahnen zu lenken. Nach der Beraubung kam es zu Vertreibung und Deportation. All das passierte in einer wahnsinnigen Geschwindigkeit.

 

Warum nennt Ihr Wien ein Labor?

Weil hier beispielhaft für das gesamte Reich gearbeitet wurde. Hier wurden bürokratische Vorgänge erprobt und geschärft. Weil Wien tatsächlich ein Modell der Radikalisierung des Antisemitismus war. Vielfach denkt man, die Verbrechen seien in Auschwitz oder Mauthausen passiert. Wir wollen zeigen, dass all dies auch unmittelbar in Wien stattfand. Es gab Außenstellen des KZ Mauthausen in Wien, Zwangsarbeit, es wurden medizinische Experimente durchgeführt, und in Steinhof wurden als „minderwertig“ qualifizierte Menschen getötet. Wien war auf vielfältige Art auch Tatort von NS-Verbrechen.

 

Hat sich das Stadtbild, abgesehen vom Hitler-Balkon am Rathaus, in der Zeit geändert?

Es gab Pläne vor allem für den 2. Bezirk, allerdings hat der Krieg dann eine größere Umgestaltung verhindert.

 

Kommt Wien als Kriegsschauplatz vor?

Wir haben ja nur begrenzt Raum und uns auf die drei wesentlichen Themen konzentriert: Wir erzählen über den Anschluss, die Schritte der Ausgrenzung und Verfolgung durch NS-Institutionen wie die Gestapo-Zentrale Hotel Metropol, und über den Tatort Wien. Ich weiß, dass das Bombardement auf Wien für viele ein wichtiges Thema ist, wir erzählen es aber in der Konsequenz danach, indem das folgende Kapitel mit der zerstörten Stadt und dem Wiederaufbau beginnt.

 

Über welche Objekte erzählt Ihr die NS-Zeit?

Für mich eines der wichtigsten Objekte ist die drei Meter hohe Werbemalerei des Adolf Grünsfeld. Wir haben diese vor kurzem in der Favoritenstraße 60 entdeckt, versteckt hinter einem Gewista-Werbeschild, teils zerstört. Und sie abnehmen lassen. Hier befand sich ein jüdisches Uhren- und Juweliergeschäft, das von Adolf Grünsfeld. Es erzählt ein sehr typisches jüdisches Schicksal von Beginn des Jahrhunderts bis in die 50er Jahre. Kurz zusammengefasst: Ein jüdischer Burgenländer baut sich in Wien eine Existenz auf, sein erster Sohn fällt im 1. Weltkrieg für Österreich, der zweite, Hans, übernimmt das Geschäft und wird 1938 verhaftet wegen Beleidigung des Führers. Kommt nach Dachau, das Geschäft wird liquidiert, nach seiner Entlassung aus Dachau kann er der Liquidierung nur zustimmen, ist seines Vermögens beraubt. Davon zeugt dann eine Finanzamtsbestätigung, auf der ein Beamter festhält, dass „der Jude Grünsfeld kein Vermögen mehr in Wien besitzt“. Seines Besitzes beraubt, gelingt ihm die Flucht über England nach Südamerika bis Bolivien. Dort begeht er, todunglücklich, 1955 Selbstmord.

 

Dann war er eigentlich auch ein Holocaust-Opfer?

Auf alle Fälle. Die Geschichte des Exils war ja im seltensten Fall eine gute. Viele waren physisch und psychisch gebrochene Existenzen, die oft nicht weiterleben konnten.

 

Wie geht Ihr mit den NS-Symboliken um?

Das ganze Land wurde ja geflutet mit NS-Propaganda, sei es mit Hitler-Bildern, mit Aussprüchen des Führers, mit Volksempfängern, Freiexemplaren von „Mein Kampf“ zu jeder Hochzeit, mit Sammelbildern- und figuren. Es gab keine Chance, dieser Ideologie zu entkommen. Wir hängen die Objekte nicht repräsentativ, wir versuchen sie zu brechen, stapeln sie in einer Kiste.

 

Kommen wir zu einem besonderen Raum, dem Vergangenheitsbewältigungs-Kapitel.

Ich bin unglücklich über den Titel, der ja auch nur ein Arbeitstitel ist. Es geht ja um die Nicht-Bewältigung. Wir müssen uns der Vergangenheit immer wieder stellen, weil wir sie nicht bewältigt, weil wir sie verleugnet haben. Die Vergangenheit wird auch 2024 nicht vergangen sein. Und dazu haben wir einen Raum geschaffen, der das auch physisch begreifbar macht. Man kann den Raum aus der NS-Zeit kommend in Einem konsumieren, oder aber in die Nachkriegszeit weitergehen – und wird auch hier später wieder in diesen Raum kommen. Auch 2019 triffst Du wieder auf andere Aspekte der Vergangenheitsbewältigung, auf die zerstörten Porträts der Holocaust-Opfer an der Ringstraße. Die Auseinandersetzung über diese Zeit hört nicht auf. Manche Akteur:innen bleiben immer gleich, manche kommen neu hinzu.

 

Deine Arbeit an der neuen Dauerausstellung passt gut zu der aktuellen Ausstellung AUF LINIE. NS-Kunstpolitik in Wien, die ab 14. Oktober im musa zu sehen ist. Du begleitest sie als Kurator von Wien Museum-Seite aus. Worum geht es in der Ausstellung?

Sie beruht auf einer Forschungsarbeit der beiden Hauptkuratorinnen, Ingrid Holzschuh und Sabine Plakolm-Forsthuber über die Reichskulturkammer der Bildenden Künste. Hier in Wien haben sich rund 3.000 Mitgliederakten erhalten. Sie geben einen Einblick in die NS-Kulturpolitik in Wien und über die Akteur:innen auf der Kunstseite, die diese gesteuert haben.

 

Was interessiert Dich hier besonders?

Dass die Akten auch eine Geschichte des Ausschlusses erzählen. Um Mitglied werden zu können, musste man bestimmte Kriterien erfüllen. Wenig überraschend natürlich rassische Kriterien, politische – deklariert sozialistische Künstler:innen hatte keine Chance, und künstlerische. Alles, was die Nazis als „entartet“ bewerteten, war ausgeschlossen. Spannend wird es für mich: Wer nicht Mitglied war, durfte nicht mehr arbeiten und ausstellen. Jetzt versuchen die Künstler:innen natürlich, dort hineinzukommen, betonen, wie sehr sie schon immer völkisch oder national gearbeitet haben, dass sie NS-konform sind. Und dieselben Aufnahmeansuchen wurden dann 1945 zur Entnazifizierung herangezogen. Und man sieht die verschiedenen Werke der Künstler:innen und ihre Strategien, künstlerisch zu überleben.

 

In Berlin läuft gerade eine Ausstellung zu „Hitlers Gottbegnadeten“. Auch bei uns werden die „gottbegnadeten“ Künstler:innen aus der „Ostmark“ biografisch betrachtet. Warum ist das jetzt Thema?

Einige Themen kommen immer wieder, vor ein paar Jahren war ja im Architekturzentrum die Ausstellung von unserer Kuratorin Ingrid Holzschuh über die NS-Stadtplanungen. Auch dass sich unsere Gesellschaft in den letzten zehn Jahren stark nach rechts entwickelt hat, kann ein Grund sein. Auf der einen Seite also das Bemühen, die Zeit irgendwie zu relativieren, auf der anderen der Versuch, dem etwas entgegen zu halten. Etwas dieser rechten Nostalgie entgegenzusetzen.

 

Das ist ja auch hier eine Gefahr: Bediene ich mit der Ausstellung der Objekte aus der NS-Zeit auch einen "nostalgischen Blick"?

Es ist immer eine Gratwanderung. Wir versuchen mit der Architektur dem entgegenzuhalten, die Objekte werden nicht schön, sondern sozusagen in einer Depotsituation präsentiert. So, dass die Besucher:innen sofort erkennen sollten: Es ist etwas nicht in Ordnung mit der Kunst. Ganz ausschließen, dass sich wer an den Kunstwerken erfreut, kann man leider nicht. Was die Ausstellung für mich, für das Wien Museum gebracht hat, ist, nochmal zu schauen, was in unseren Depots liegt und wie diese Werke funktionieren, wie die Klassifikation ist. Bisher hatte ich die Kunstsammlung nur nach Provenienzen jüdischer Vorbesitzer:innen gescannt.

 

Der Umgang mit NS-Kunst in den Depots wird auch Thema eines Symposiums im März nächsten Jahres sein. Kurz gefragt: wie viele Objekte aus der Zeit liegen im Wien Museum?

Alleine aus den Ankäufen des Kulturamts zwischen 1938 und 1945 über 1.000 Objekte.

 

Kommen wir zum Ende zurück auf die Baustelle am Karlsplatz.

Es ist schon spannend, welche Möglichkeiten das Haus dann bieten wird. Also von den Ateliers bis ins Restaurant. Auch die Dauerausstellung mit der Geschichte Wiens wird ja ganz neu gedacht, durch Formate wie die Stadtfenster oder das Generationenformat wird zudem versucht, unsere Erzählung immer wieder aufzubrechen. Damit möchten wir ganz klar auch neue Besucher:innen ansprechen. Im Moment ist das aber alles noch Theorie, schauen wir dann mal, wie sich das nach der Eröffnung wirklich gestaltet, ob das alles so funktioniert wie ausgedacht.

 

Und was wünschst Du Dir vom neuen Museum?

Dass es ein Ort ist, an dem man nach dem Besuch sagt: Ich möchte wiederkommen. Ich möchte noch mehr erfahren.

 

 

 

Gerhard Milchram, geboren 1962 in Neunkirchen (Niederösterreich). Studium der Geschichte, Publizistik und Kommunikationswissenschaft in Wien; 1997 Sponsion. 2001 Absolvent der internationalen Sommerakademie für Museologie der Universitäten Klagenfurt, Wien, Graz und Innsbruck. 1995 bis 1997 freier Mitarbeiter am Institut für die Geschichte der Juden in Österreich. 1997 bis 2010 Kurator im Jüdischen Museum Wien, seit 2011 Kurator im Wien Museum, seit 2017 Mitglied im Arbeitskreis für Provenienzforschung e.V. Im Wien Museum ist er für die Bereiche Politische Geschichte und Stadtchronik nach 1918, Minderheiten und Restitution zuständig. Zuletzt kuratierte er „Eine Republiksgeschichte in zehn Objekten“ 2018 im Rahmen von „Gemma, Gemma. Das Wien Museum im Aufbruch“ gemeinsam mit Matti Bunzl; „Fluchtspuren“ sowie „Flucht europäisch erzählen. Beeing A Refugee. A European Narrative, 2018 im Kuratorenteam; „Geteilte Geschichte. Viyana – Bec – Wien“, 2017 gemeinsam mit Vida Bakondy; „Sex in Wien – Lust. Kontrolle. Ungehorsam“ 2016 im Kuratorenteam. Für das Jüdische Museum Wien kuratierte er u.a. 2004 „ceija stojka.leben!“, 2009 mit Hanno Loewy „Hast Du meine Alpen gesehen? Eine jüdische Beziehungsgeschichte“ und 2010 mit Felicitas Heimann-Jelinek und Gabriele Kohlbauer-Fritz „Die Türken in Wien. Geschichte einer jüdischen Gemeinde“.

 

Für die neue Dauerausstellung kuratiert er mit Niko Wahl das Kapitel zum Nationalsozialismus und das Vergangenheitsbewältigungs-Kapitel (Arbeitstitel).

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