Jennie Carvill Schellenbacher

Inklusives Museum, Referentin der Direktion

Vorgestellt 16 │ Februar 2021

 

 

Du kommst aus Liverpool, bist für den Umbau des Wien Museums unsere Inklusionsbeauftragte. Sind die Brit:innen besonders gut in dem Thema?

Inklusion, Diversität, Barrierefreiheit sind große Themen in Großbritannien. Da waren wir vielleicht ein bisserl früher aufgestellt als andere Länder. Es gibt dort einen völlig selbstverständlichen Zugang, der so noch nicht überall vorhanden ist. Das hängt auch mit der Ausbildung zusammen. In Museum Studies ist das ein ganz wichtiger Bereich.

 

Museum Studies – kann ich das mit Museumskunde übersetzen? Hast Du das nach dem archäologischen Bachelorstudium studiert?

Ja. Es ist kein pädagogisches Studium, es ist ein bisserl alles, Kuratieren, Restaurierung, Fundraising, wie arbeitet man mit unterschiedlichen Communities, wie geht man Objektbiografien und Narrative an. Und in Leicester, wo ich studiert habe, ist das Thema Inklusion besonders verankert. Es gab damals übrigens kein Museum Studies-Bachelorstudium, deswegen habe ich davor, wie viele, Archäologie studiert. Was aber wiederum auch Museumsmodule beinhaltete. Meine Arbeit habe ich über die Repräsentation des Holocaust in Britischen Museen geschrieben.

 

Mit 22 Jahren bist Du im Rahmen eines europäischen Freiwilligendiensts das erste Mal nach Wien gekommen. Hattest Du schon vorher eine Beziehung zu Österreich, wie ging das mit der Sprache?

Ich habe ein bisserl Deutsch gehabt in der Schule. Aber erst in Österreich habe ich es dann richtig gelernt. Mit 18 Jahren, vor der Archäologie, war ich schon einmal in Berlin, Sachsenhausen, bei einem Ausgrabungsprojekt dabei. Zwischen meinem Bachelor und Master Studium hatte ich mir ein Jahr Auszeit genommen, war in Hongkong, habe Englisch unterrichtet und danach nach Projekten im Bereich Holocaust Education gesucht - und in Wien im Verein Gedenkdienst gefunden.

 

Wie kamst Du vom Holocaust, von der Erinnerungskultur, zur Inklusion?

Im Haus der Geschichte Österreich war ich als kuratorische Assistentin den Bereichen Diktaturen, Erinnerungskultur und dem Kampf um Gleichstellung zugeordnet. Das umfasste auch den Kampf von Menschen mit Behinderung. Hier arbeitete ich mit Leuten, die erzählten, dass sich in Museen bisher niemand für sie interessiert hat. Wir hatten übrigens gerade für die neue Dauerausstellung des Wien Museums einen Termin mit Volker Schönwieser, einem Professor für Sonderpädagogik und Aktivisten in der Bewegung für selbstbestimmtes Leben, schon seit den 70er Jahren. Und er hat gesagt, kaum ein Museum in Österreich hat sich mit dem Thema wirklich tiefer auseinandergesetzt.

 

Und mit den Erfahrungen vom Haus der Geschichte bist Du ins Wien Museum gekommen?

Eigentlich zuerst in die Ausstellungsproduktion, in der ich heute noch arbeite. Und dann habe ich speziell das Thema Inklusion übernommen. Also ich koordiniere alle unsere Anstrengungen in diesem großen Bereich.

 

Was umfasst denn der Bereich Inklusion alles? Jetzt in der Planung des neuen Museums?

Ich sehe drei Schwerpunkte: Den physischen Zugang zum Museum: Wie kommt man überhaupt rein, ist es bequem und unkompliziert, lässt sich der Garderobenspind leicht öffnen, bewegen sich die Aufzüge mit einer halbwegs sinnvollen Logistik? Dann, wie ist der Zugang zu den Inhalten der Ausstellung? Werden sie nur über Objekte hinter Glas und über Texte erzählt, hat zum Beispiel jemand mit einer visuellen Behinderung Probleme? Oder bestimmte Objekte brauchen bestimmte Lichtverhältnisse, die wiederum für einzelne Publikumsgruppen schwierig sind. Wie bringen wir diese unterschiedlichen Voraussetzungen in Einklang? Braucht es da mehr Tastobjekte? Wie sind unsere Texte geschrieben? Und als dritten Schwerpunkt der Versuch, dass auch die Geschichte von unterschiedlichen Gruppen in der Ausstellung vorkommt.  Ist die Art und Weise, wie Gruppen vorkommen, modern, gerecht, divers?

 

Wie geht das, die Geschichte verschiedener Gruppen in der Ausstellung zu zeigen?

Unsere Intention ist es, dass bestimmte Gesellschaftsgruppen oder Themen durch alle Kapitel hinweg vorkommen. Also überlegen wir uns, wie gehen wir mit den Leerstellen um, wenn sie in den historischen Darstellungen einfach nicht vorkommen oder die Art und Weise, wie sie vorkommen, sehr einseitig oder problematisch ist? Zum Beispiel wenn Menschen mit Behinderungen nur als Kriegsversehrt:innen oder Bettler:innen zu sehen sind. Wie können wir das historische Wien in seiner erlebten Diversität zeigen und viele spannende Facetten aufmachen?

 

Inklusion heißt ja nicht nur physisch zugänglich machen?

Genau, es geht um alle Menschen. Ob alt oder jung, groß oder klein, mit oder ohne körperlicher oder kognitiver Beeinträchtigung. Und wir merken, jede kleine Änderung, die wir vornehmen, hat einen Mehrwert für mehrere Gruppen. Zum Beispiel die Frage, gibt es ausreichend Sitzplätze? Diese spricht ältere Menschen an wie Leute mit temporären Verletzungen, oder auch Menschen, die nicht besonders gut sehen können und vielleicht über diese stolpern. All solche Überlegungen fließen in die Auswahl und den Standort des Sitzmöbels ein.

 

Unsere Toilette für alle ist hier, glaube ich, eine große Sache?

Ja, sie ist unser Angebot an Menschen mit sehr komplexen Bedürfnissen. Nicht nur genderneutral. Sie ist größer, hat viel mehr Ausstattung als ein gewöhnliches barrierefreies Klo. Hebefunktionen, Liegemöglichkeit, wo auch Erwachsene versorgt werden können. Changing Places heißt das im Englischen und ist das Resultat einer langen Kampagne von Menschen mit Behinderungen. Damit erweitern wir auch die Funktion des Museums, denn das wird, wenn in den nächsten drei Jahren niemand anderer eine Toilette für alle einrichtet, die erste in Österreich sein. Immer frei zugänglich, wie unser Restaurant oder die Terrasse. Das ist ein Angebot, das für Leute, die darauf angewiesen sind, ihren Familien und Begleitungen die Teilhabe am öffentlichen Leben einfacher macht.

 

Woher wissen die Menschen dann, dass es bei uns so eine öffentliche Anlage gibt?

Das ist eine interessante Frage. In Großbritannien gibt es ganze Websites mit Routenplanern für solche Einrichtungen. Wir arbeiten hier mit Personen, Vereinen und Organisationen, die als Multiplikator:innen fungieren können. Ich hoffe, dass sich das in den Communities herumsprechen wird. Natürlich wird unsere Website über die Angebote informieren.

 

Mit wem berätst Du Dich?

Wir besprechen uns mit den Architekt:innen und der ÖZIV, unserer Bauberatungsfirma für Barrierefreiheit. Und 2020 habe ich gemeinsam mit Kolleg:innen aus anderen Museen in ganz Österreich eine ARGE Inklusives Museum ins Leben gerufen. Denn es gibt so viel Expertisen, aber auch Wissensinseln – manche arbeiten besonders mit Menschen mit Demenz, andere mit Menschen mit Sehbeeinträchtigung oder mit der Leichten Sprache – und die sollten viel mehr geteilt werden. Ich bin tatsächlich in Österreich nur eine von zwei Personen, die den Bereich Inklusion als eigenen Bereich verantwortet. Also, wir versuchen ihn ein bisserl zu professionalisieren.

 

Woran arbeitest Du gerade?

Im Moment beschäftige ich mich sehr mit taktilen Objekten, den Hands-on in der Ausstellung. Dazu gibt es sehr breite Angebote, und sehr spezifische. Wie übersetzt man ein Gemälde in 3D, welche Informationen können wir vermitteln? Können Stadtmodelle in Zukunft auch tastbar sein? Wir wissen, dass Kinder gerne alles angreifen. Und dass Menschen oft mehr begreifen, wenn sie Inhalte körperlich erfahren.

 

Aber kannst Du eine Ausstellung wirklich immer für alle erfahrbar machen?

Wir versuchen eine möglichst große Vielfalt anzubieten. Natürlich gibt es Basics, also wie hoch oder niedrig kann die Vitrine sein, wo stehen die Texte, wie muss sich wer verbiegen, um die zu lesen. Es gibt einen super Artikel aus Chicago von 1916, der den Weg eines Menschen durch ein Museum beschreibt, mit welchen Verrenkungen er versucht, die Texte zu lesen. Dazu planen wir Sitzplätze ein, die die Möglichkeit zur Vertiefung, aber auch einfach zum Ausruhen geben. Zum Glück gibt es viele Forschungen und Ö-Normen, die Toleranzrahmen vorgeben, für Kinder, Rollstuhlfahrer:innen, oder den stehenden Erwachsenen. Manchmal geht es nur einfach darum, daran zu denken, dass das Sitzmöbel leicht bewegbar ist, damit es für Rollstuhlfahrer:innen aus dem Weg geräumt werden kann.

 

Ihr plant die Inklusion parallel zur Dauerausstellung?

Ja, im Moment geht es darum, den Platz für alles zu reservieren. Gerade wird es immer enger und enger und alle Abteilungen kämpfen ein bisserl um den Raum. Wir arbeiten hier sehr mit den Vermittler:innen zusammen, die gerade an ihren Programmen für unterschiedliche Zielgruppen arbeiten. Auch sie beschäftigen sich viel mit dem Thema Inklusion und es gibt eine große Expertise. Das ist eigentlich mein Job: diese zu erkennen und zu koordinieren, zu bündeln.

 

Und außerhalb der Ausstellung?

Da denken wir gerade darüber nach, wo gibt es Stauraum für Leihrollstühle? Wie gehen wir mit Medienguides um, wie können wir hier die österreichische Gebärdensprache mit einbauen, wo können wir die Leichte Sprache anbieten? Das geht dann bis zur Website, ist sie barrierefrei? … und so weiter.  Viel ist hier schon im Gesetz festgelegt, aber das ist das Minimum – wir fragen uns, wie wir noch weitergehen können.

 

Und ist die Architektur, die des Altbaus oder Neubaus, hilfreich in Sachen Inklusion?

Das weiß ich jetzt nicht wirklich. Einiges ist festgelegt, schon durch den Denkmalschutz. Ich kam ja erst Anfang 2019 dazu. Wenn ich zum richtigen Zeitpunkt einbezogen werden kann, kann ich auch was bewirken, wie – auch wenn sich das jetzt ein wenig fad anhört – die Sache mit dem Lift. Alle, die die Treppen nicht verwenden, hätten aus der Dauerausstellung heraus wieder nach unten fahren müssen, um dann mit einem anderen Lift zum Sonderausstellungsgeschoss zu kommen. Jetzt gibt es einen Lift, der auch in den Keller zur Toilette für alle fährt und hoch ins neue Obergeschoss.

 

Wie gut, dass Du als Archäologin Pläne lesen kannst.

Das hilft auf alle Fälle, aber auch meine Ausstellungserfahrungen. Und wir haben die Bauberatung ÖZIV, die sich mit den Ö-Normen super auskennt und die auf alle Pläne schaut.

 

Deine Dauerausstellungserfahrung hast Du ja von Deinem Buchprojekt „Dauerausstellungen: Schlaglicht auf ein Format“, das Du am Joanneum in Graz betreut hast?

Ja, das war super. Da durfte ich zu allen Museen fahren und mit ihnen über ihre Dauerausstellungen sprechen. Auch zum Museum of Liverpool, meiner Heimatstadt.

 

Was waren Deine Erkenntnisse?

Dass sie sehr oft zu unflexibel sind. In unsere Dauerausstellung haben wir flexiblere Elemente eingeplant, zum Beispiel unsere „Stadtfenster“, die immer wieder die Sicht von außen einbringen und wechselnd bespielt werden können. Und dass die Dauerausstellungen immer für zehn Jahre geplant sind und dann 20 Jahre stehen. Das denken wir jetzt wirklich mit. Wie ist das, wenn wir Kapitelnamen in die Wand eingravieren, und die Begriffe ändern sich in den nächsten 20 Jahren? Viele Museen gehen thematisch vor. So können ganze Themenbereiche ausgetauscht werden, ohne die ganze Ausstellungserzählung zu zerstören. Wir haben zwar eine chronologische Erzählung, aber in dieser Themenschwerpunkte. Dadurch ist auch eine gewisse Flexibilität gegeben.

 

Das Thema Inklusion ist so komplex, ich denke, wir werden uns, wenn die Dauerausstellung fertig ist, nochmal dazu treffen. Was machst Du im Bereich Produktion?

Da unterstütze ich Bärbl (Schrems, Leiterin Produktion, Anm.). Vor allem in der Planung, in der Organisation der neuen Dauerausstellung. Dass alle zu den Terminen kommen, auch die Firmen und Architekt:innen, und die Zeitpläne eingehalten werden. Dass alle neuen Gestalter:innen, die jetzt die Dauerausstellung im Detail planen und bauen, die nötigen Infos haben. Und dann arbeite ich noch in Karenzvertretung von Elisabeth Heimann als Referentin der Direktion.

 

Koordination ist also in allen Bereichen Dein Hauptjob. Wie geht das zurzeit, vorwiegend online?

Das Gute ist: Es gibt keine Anfahrtszeiten mehr. Die muss ich nicht mehr mitbedenken. Aber heute zum Beispiel habe ich sechs Stunden Zoom-Termine. Das ist schon wahnsinnig anstrengend. Da kommt man eigentlich nicht mehr zum Aufarbeiten. Und ich muss mich richtig anstrengen, dass ich nicht während eines Termins im Hintergrund E-Mails beantworte.

 

Zum Abschluss noch einmal zum Wien Museum Neu. Gibt es etwas, worauf Du Dich besonders freust?

Ich bin sehr gespannt auf diesen Multifunktionsbereich Pavillon. Den neuen Eingangsbereich. Treffpunkt, erste Info, erster Berührungspunkt mit dem Museum. Aber natürlich auch die Halle, wofür wir so eine schlüssige Auswahl von wirklich spannenden Großobjekten getroffen haben. Ich bin total ein Fan vom Stephansdom. Eine meiner Lieblingsausstellungen hier war die über den Stephansdom. Einer meiner Lieblingstage, kurz nachdem ich angefangen habe im Wien Museum zu arbeiten, war der Tag oben am Dachboden des Stephansdoms. Um den Modellabtransport vorzubereiten. Ich liebe diese Hinter-den-Kulissen-Sache. Ich liebe es, Museen zu besuchen, aber hier zu arbeiten liebe ich noch viel mehr. Was hinter jeder Ausstellung für eine Arbeit steht! Wenn ich gefragt werde, „Was, Ihr eröffnet erst in drei Jahren wieder?“, fange ich an aufzulisten, was bis dahin alles zu tun ist. Und dann sagen sie „Wow, das hätte ich nicht gedacht. Schafft Ihr das alles?“.

 

 

 

Jennifer Carvill Schellenbacher, geboren 1984 in Liverpool, UK. Studium der Archäologie an der University of Durham, anschließend Masterstudium Museum Studies an der University of Leicester. 2006 kam sie im Rahmen eines europäischen Freiwilligendienstes im Verein Gedenkdienst das erste Mal nach Wien. Nach dem Studium absolvierte sie ein Praktikum am Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes und arbeitete von 2009 bis 2013 im Bereich Administration und Projektmanagement am Internationalen Institut für angewandte Systemanalyse (IIASA) in Laxenburg. Für die Museumsakademie Joanneum in Graz betreute sie das Buchprojekt „Dauerausstellungen: Schlaglicht auf ein Format“. 2014 bis 2017 war sie wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. 2017 bis 2019 arbeitete sie am Haus der Geschichte Österreich und kuratierte die Sonderausstellung „Memento Wien“ am Dokumentationsarchiv des Österreichischen Widerstandes zu NS-Erinnerungsorten in Wien. 2019 kam sie an das Wien Museum in die Abteilung Produktion und übernahm für das Wien Museum Neu den Bereich Inklusion, seit Juli 2020 hat sie zusätzlich die Karenzvertretung der Referentin der Direktion übernommen.

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