Martina Nußbaumer

Kuratorin

Vorgestellt 21 │ Mai 2021

 

Deine Sammlungszuständigkeit umfasst Konsum- und Firmengeschichte, Wien-Repräsentationen und -Klischees, Haus- und Geschäftszeichen, Sport und Berufs- und Arbeitswelt, und zwar jeweils vor 1918. Wie kommt es zu dieser Mischung?

Das hat mit der Sammlungsgeschichte und der Geschichte der internen Organisation des Hauses zu tun. Es gibt im Wien Museum umfangreiche und sehr diverse Bestände zur Kultur- und Alltagsgeschichte vor 1918, die gar nicht so leicht unter eine Überschrift zu bringen sind, weil sie so viele Lebensbereiche berühren. Diese Aufzählung beschreibt einige Hauptsammlungsbereiche und soll jenen Menschen, die im Wien Museum Objekte suchen, Orientierung geben, an wen sie sich bei Fragen wenden können. Wenn jemand etwa Objekte zum Naschmarkt vor 1918 oder Darstellungen alter Wiener Kaffeehäuser sucht, bin ich die Ansprechpartnerin.

 

Was sind denn Sammlungsobjekte für Wien-Klischees?

Dazu gehören zum Beispiel die vielen Grafik- und Fotoserien in der Tradition der „Wiener Typen“-Darstellungen. Oder touristische Wien-Darstellungen, etwa auf Ansichtskarten aus der Zeit um 1900.

 

Und in der Sportwelt?

Wir haben im Bereich Radsport etwa einige Karikaturen zu den Debatten über weibliches Radfahren um 1900, zur Diskussion, ob es schicklich ist, dass Frauen Rad fahren. Aber auch ein schönes Gruppenporträt von Radfahrerinnen, die sich schon um 1900 in einem „Bicycle-Club“ organisiert haben. Oder zwei „Velociped-Erlaubnis-Scheine“ aus dem späten 19. Jahrhundert – damals brauchten Radfahrer:innen Führerscheine, wenn sie in der Stadt Rad fahren wollten.

 

Dein Forschungsinteresse und Deine Ausstellungstätigkeiten liegen aber auch ganz stark in der jüngeren Vergangenheit.

Ich bin von der Ausbildung her Zeithistorikerin und habe immer übergreifend zu Themen mit einem zeitlichen Schwerpunkt vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart gearbeitet. Ich habe mich viel mit Geschichts- und Identitätspolitik beschäftigt – also mit Fragen, wie mit Bezügen auf die Vergangenheit und Erzählungen über vermeintlich homogene nationale, soziale oder ethnische Gruppen in der jeweiligen Gegenwart Politik gemacht wird. In meiner Ausstellungstätigkeit im Wien Museum beschäftige ich mich stark mit Themen, in denen urbanistische und gesellschaftspolitische Fragestellungen zusammenkommen: Wem gehört die Stadt? Wer bestimmt, welche Konzepte von Stadtentwicklung sich durchsetzen, wie das „gute Leben“ in der Stadt aussehen soll? Welche Möglichkeiten hat die Bevölkerung, selbst die Rahmenbedingungen des Lebens in der Stadt mitzugestalten? Das waren etwa Themen, die Werner Michael Schwarz und mich in der Ausstellung „Besetzt!“ über den Kampf um Freiräume seit den 1970ern beschäftigt haben, aber auch Themen, die in anderen Ausstellungen wichtig waren.

 

Zum Beispiel?

Die letzte Ausstellung über das Phänomen Selfstorage, „Wo Dinge wohnen“, die ich gemeinsam mit Peter Stuiber kuratiert habe, war sehr speziell, weil wir hier ein unmittelbares Gegenwartsphänomen in den Ausstellungsraum gebracht haben. Hier ging es vor allem darum, Fragen über Platz in der Stadt, über seine Verfügbarkeit und Leistbarkeit anzustoßen, aber auch Fragen über unsere Beziehung zu den Dingen, die wir besitzen. Bei „Sex in Wien“ habe ich unterschiedliche Themenfelder betreut. Gemeinsam mit Frauke Kreutler haben wir uns etwa intensiv mit dem Thema Sexarbeit beschäftigt. Wie haben sich die Rahmenbedingungen der Arbeit von Sexarbeiter:innen vom 18. Jahrhundert bis in die Gegenwart verändert, welche Arbeitsbedingungen und Handlungsspielräume haben sie, wie wird über sie geurteilt? Welche Konsequenzen hat die Verdrängung des Straßenstrichs an den Stadtrand? Uns war wichtig, nicht nur Sichtweisen auf Sexarbeiter:innen, sondern auch ihre eigene Sicht in die Ausstellung zu bringen.

 

Seit Beginn der Pandemie beschäftigt Dich ein kuratorisches Projekt aus der unmittelbaren Gegenwart: Die Corona-Sammlung. Was wird gesammelt?

Anna Jungmayr und mir ging es darum, Objekte zu sammeln, die möglichst aussagekräftig davon erzählen, mit welchen Herausforderungen die in Wien lebenden Menschen in der ersten Phase der Corona-Krise konfrontiert waren. Objekte, die davon erzählen, welche individuellen und kollektiven Formen der Krisenbewältigung es hier gab. Im Rahmen eines Sammlungsaufrufs haben wir im März 2020 die in Wien lebenden Menschen gebeten, uns Fotos von Dingen zu schicken, die ihren neuen beruflichen und privaten Alltag in Wien begleiten. Und dann im zweiten Schritt nicht nur Fotos, sondern auch ausgewählte physische Objekte in die Sammlung aufgenommen.

 

Was waren das für Objekte?

Mit der Corona-Krise hat sich auch die materielle Kultur in der Stadt verändert: Neue Dinge wurden relevant, die vorher wenig Bedeutung im Alltag hatten, wie etwa Mund-Nasen-Schutzmasken. Bekannte Dinge wurden im Rahmen einer neuen Kultur des Improvisierens anders verwendet als bislang gewohnt. Bemerkenswert ist, wie stark in der ersten Phase der Krise die Menschen mit Hilfe von Dingen kommuniziert haben – sei es in Form von handgeschriebenen Aushängen mit Angeboten zur Nachbarschaftshilfe, die in Wohnhäusern ausgehängt wurden, Basteleien, oder Transparenten mit Solidaritätsbotschaften, die aus dem Fenster gehängt wurden. In späteren Phasen der Krise hatten solche Formen der Solidaritätsbekundung nicht mehr den Stellenwert wie im ersten Lockdown. Es war gut, dass wir so früh angefangen haben, zu sammeln.

 

Und die Objekte kann man sich auf sammlung.wienmuseum.at ansehen. Unter dem Stichwort „Corona-Pandemie“ finden sich mittlerweile 376 Abbildungen. Aber das sind nicht alle, die in die Sammlung aufgenommen wurden?

Es ist bereits der Großteil, aber es kommen noch einige dazu, zumal die Krise auch noch nicht vorbei ist. Wir sind im laufenden Prozess des Inventarisierens. Dazu gehört auch das Dokumentieren der persönlichen Geschichten hinter den Objekten und des breiteren Kontexts ihrer Entstehung und Verwendung.

 

Kommen jetzt noch neue Objektvorschläge zu Dir?

Weit nicht mehr so viele wie zu Beginn der Pandemie. Am Anfang, als wir den Sammelaufruf gestartet haben, war die Situation völlig neu und aufregend; sehr viele Menschen haben in unterschiedlichen Formen diesen drastischen Einschnitt in ihrem Alltagsleben dokumentiert. Spätestens nach dem zweiten Lockdown ließ die Lust am Dokumentieren des immer zäher werdenden Corona-Alltags aber deutlich nach. Abseits von neuen Objekten zum Thema Impfen tauchen auch insgesamt wenig neue Objekte auf. Was wir aber auch festhalten müssen: Wir können auf der Objektebene nicht alle Aspekte der Krise dokumentieren. Was es wirklich heißt, einen schweren Krankheitsverlauf zu durchleben, Angehörige zu verlieren, arbeitslos zu werden, oder als freischaffende Musiker:innen seit Monaten keine Auftritte mehr zu haben, lässt sich nur bedingt über Objekte erzählen.

 

Für die neue Dauerausstellung kuratierst Du zusammen mit Niko Wahl den Zeitabschnitt zur jüngsten Vergangenheit und Gegenwart: Den Bereich von 1989 bis heute.

Die besondere Herausforderung bei der Konzeption dieses Kapitels ist, dass der behandelte Zeitraum nicht abgeschlossen ist. Hier ist noch vieles im Fluss, wird sich in den kommenden Jahren ändern. Das ist besonders fordernd, aber auch besonders reizvoll.

 

Was sind Eure Schwerpunkte, Eure Erzähllinien?

Die Grundfrage des letzten Kapitels ist: Was macht die Stadt in den letzten 30 Jahren aus? Was sind die zentralen Veränderungen und Herausforderungen? Und wie nehmen die in Wien lebenden Menschen diese wahr? Wien hat sich seit 1989 stark gewandelt, nicht zuletzt durch die neue geopolitische Lage der Stadt. Durch den Fall des Eisernen Vorhangs und den EU-Beitritt ist Wien gewissermaßen vom „Rand“ ins Zentrum Europas gerückt. Und Wien ist seit den 1990er Jahren rasant gewachsen – um fast 400.000 Menschen! Welche Herausforderungen entwickeln sich daraus für das Zusammenleben, für die Stadtplanung, für den Wohnungsmarkt, für die Arbeitswelt? Wie wirken sich Globalisierung und neoliberale Paradigmen auf das Stadtbild und Wiener Lebenswelten aus? Das alles sind sehr große Fragen, die wir allein schon aus Platzgründen nicht umfassend behandeln können, aber auf die wir Schlaglichter werfen möchten.

 

Niko hat schon erzählt, das wird ein eher objektarmes Kapitel sein. Wie sind stattdessen Eure Ausstellungsformate?

Ja, wir arbeiten mit wenigen klassischen Objekten, die gleichsam provisorische Setzungen sind, also auch jederzeit durch andere ersetzt werden können. Wir möchten so auch vermitteln, dass das Sammeln zur jüngsten Vergangenheit kein abgeschlossenes Projekt ist. Und wir möchten die Besucher:innen einladen, selbst Objektvorschläge zu machen. Abseits dieser Leitobjekte läuft die Erzählung im Kapitel stark über Stadtwahrnehmungen von in Wien lebenden Menschen, die in Form von Videointerviews und kommentierten Fotos über ihren Blick auf die Veränderungen in den letzten 30 Jahren erzählen.

 

Und wo steht Ihr hier in der Planung?

Die inhaltlichen Konzepte für die Interviews und Fotostrecken stehen. Derzeit sind wir kurz davor, in die konkrete Produktionsphase zu gehen.

 

Und was sind die Objekte aus der eigenen Sammlung, die hier gezeigt werden?

Im Bereich „Neue Arbeitswelten“ zeigen wir zum Beispiel einen Lieferrucksack des Essenszustelldiensts „Foodora“, der in Wien zwischen 2015 und 2019 tätig war. In dieser Zeit haben die Foodora-Fahrer:innen mit ihren pinkfarbenen Rucksäcken vermutlich am stärksten von allen seit den 2010er Jahren boomenden Lieferdiensten das Stadtbild bestimmt. Mittlerweile ist „Foodora“ bereits Geschichte und ging in der Marke „Mjam“ auf – der Markt ändert sich rasch. Der Rucksack erzählt über veränderte Mobilität in der Stadt, veränderte Esskulturen, aber auch über neue Ökonomien und Arbeitswelten. Ein Großteil der Lieferant:innen solcher Lieferdienste ist nicht angestellt und arbeitet in prekären Verhältnissen. Also dieser Rucksack verbindet viele Geschichten und Fragen zur neuen Arbeitswelt, die wir zur Diskussion stellen möchten. Generell wäre es wunderbar, wenn dieses Kapitel ein Ort wird, an dem über verschiedene Positionen und Sichtweisen diskutiert wird.

 

Werden auch Objekte aus der Corona-Sammlung zu sehen sein?

Die allermeisten Objekte aus der Corona-Sammlung sind aus Papier oder Stoff und damit schon aufgrund ihrer materiellen Beschaffenheit nicht für längerfristige Ausstellungen geeignet. Aber das Thema Corona wird vorkommen.

 

Wenn die Vergangenheit so nah ist, scheint es mir überhaupt schwierig, zu wissen, welche Objekte wirklich relevant sind?

Wir stehen beim Sammeln von Gegenwartsobjekten immer vor dem Dilemma, dass es zum einen oft mehr zeitliche Distanz bräuchte, um beurteilen zu können, welche Phänomene langfristig bedeutsam sind. Andererseits verschwinden manche Gegenstände auch schnell wieder, wenn man sie nicht sichert. Das sehen wir etwa im 19. Jahrhundert, wo die Alltagskultur der Arbeiterschaft kaum in Museen gesammelt wurde und vieles unwiderruflich verloren ist. Wichtig beim Sammeln von Objekten der Gegenwart – wie beim Sammeln insgesamt – ist es, nachvollziehbar zu machen, warum ein Objekt zum Zeitpunkt der Aufnahme in die Sammlung als aufhebenswert betrachtet wurde.

 

Da braucht es sicher sehr klar definierte Sammlungskriterien.

Ja, es sollte transparent sein, auf welcher Entscheidungsbasis ein Objekt gesammelt wird. Das große Potenzial beim zeitnahen Sammeln von Gegenständen ist, dass wir mit den Menschen, die diese Gegenstände produziert oder verwendet haben, ins Gespräch kommen können und direkt Geschichten zum Objekt sammeln können. Das hilft auch, Geschichte als erlebte Geschichte erfahrbar zu machen.

 

Mit Eurem Kapitel endet die Dauerausstellung im 2. Stock. Aber die Gegenwart geht ja weiter. Wo wird die Zukunft zu sehen sein?

Sowohl das Konzept als auch die Ausstellungsarchitektur sind sehr flexibel angelegt. Es soll die Möglichkeit geben, dass Objekte und Inhalte ausgetauscht werden können, um immer wieder auf neue Fragestellungen zu reagieren. Und es wird am Ende der ganzen Dauerausstellung einen eigenen Bereich geben, der sich mit der Zukunft der Stadt beschäftigt.

 

Kommen wir nochmal zurück auf Deinen Sammlungsbereich vor 1918. Kommt hier in der neuen Dauerausstellung ein Objekt vor, das Du besonders magst?

Zwei besonders schöne Stücke sind das Hauszeichen „Zum schmeckenden Wurm“ und das dazugehörige Geschäftsschild der gleichnamigen „Material- und Spezereihandlung“, die sich im Durchgang zwischen Wollzeile und Lugeck befand. Beide stammen aus dem 18. Jahrhundert. Beim „Materialisten“ konnte man etwa Kräuter, Tees und Gewürze kaufen, beim Spezereihändler Zucker, Kaffee oder Reis. Das Hauszeichen sieht ähnlich aus wie ein Krokodil – der Sage nach soll im Keller des Hauses ein schrecklicher Lindwurm gesessen sein. Auf dem Geschäftsschild sieht man eine exotisierende Darstellung eines prächtig gekleideten Chinesen und eines Afrikaners mit Federkrone, die neben ihren Handelswaren auf ein Schiff aus der Ferne warten. Die Bildkomposition suggeriert eine gleichsam harmonische und gleichberechtigte Handelsbeziehung zwischen Europa, Afrika und Asien. Die kolonialen Produktionsbedingungen vieler Waren, die in Geschäften wie dem „schmeckenden Wurm“ angeboten wurden, das Faktum, dass etwa für die damalige Zuckerproduktion viele Menschen aus Afrika verschleppt und versklavt wurden, wird dabei ausgeblendet. Das bietet spannende Anknüpfungspunkte für aktuelle Debatten zum Thema Postkolonialismus.

 

Was wünscht Du Dir vom neuen Wien Museum?

Im Idealfall wird das neue Wien Museum ein Haus, in dem sich Stadtbewohner:innen aus unterschiedlichen Stadtgesellschaften wohl fühlen. Ein Haus, das man als lebendigen Ort empfindet, das zur Auseinandersetzung mit der Stadt, in der man lebt, einlädt. Ein Ort, wo sich Museum und Stadt miteinander verschränken. Und wenn es gelingt, dass hier Stadtgesellschaften, die sonst nicht im Dialog sind, miteinander ins Gespräch kommen, wäre das wunderbar.

 

 

 

Martina Nußbaumer, geboren 1976 in Klagenfurt, studierte Geschichte, Angewandte Kulturwissenschaften und Kulturmanagement in Graz und Edinburgh und promovierte 2005 mit einer Arbeit über die Konstruktion Wiens als „Musikstadt“. Von 2000 bis 2005 war sie wissenschaftliche Mitarbeiterin im Spezialforschungsbereich „Moderne – Wien und Zentraleuropa um 1900“ an der Universität Graz, 2003/2004 Junior Fellow am Internationalen Forschungszentrum Kulturwissenschaften (IFK) in Wien, 2007/2008 wissenschaftliche Mitarbeiterin im FWF-Projekt „Die Wiener Hofburg seit 1918. Von der Residenz zum Museumsquartier“. Seit 2006 gestaltet sie Radiobeiträge für Ö1, seit 2008 ist sie Kuratorin für Kultur- und Alltagsgeschichte im Wien Museum. Ausstellungen, Publikationen und Sendungen zu Stadt- und Kulturgeschichte im 19., 20. und 21. Jahrhundert, Geschlechtergeschichte, urbanen sozialen Bewegungen sowie zu Geschichts- und Identitätspolitik. Zuletzt co-kuratierte sie die Ausstellungen „Wo Dinge wohnen. Das Phänomen Selfstorage“ (2019) und „Sex in Wien – Lust. Kontrolle. Ungehorsam“ (2016).

 

Für die neue Dauerausstellung kuratiert Martina Nußbaumer gemeinsam mit Niko Wahl das letzte Kapitel (1989 bis zur Gegenwart).

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