Nathaniel Prottas

Leiter Vermittlung

Vorgestellt 39 │ Juni 2022

 

 

Nach dem Studium in Chicago und London hast Du in Philadelphia in Kunstgeschichte promoviert. Wie kamst Du von Philadelphia an das Wien Museum?

In meinem letzten Promotionsjahr habe ich als Fellow für die Frick-Collection in New York gearbeitet und dann einen Job in einem kleinen Museum bekommen. Ich wurde im Museum of Biblical Art der Leiter der Vermittlung. Übrigens ein problematischer Name, denn es war gar kein religiöses Museum. Vielleicht der Grund, warum es das Museum heute nicht mehr gibt… Wie auch immer, damals habe ich die Ausschreibung einer Postdoc-Stelle vom American Council of Learned Societies für Public Humanities am Wien Museum gesehen.

 

Was ist eine Postdoc-Stelle?

Ein Postdoc ist jemand, der gerade sein Doktoratsstudium abgeschlossen hat und an der Universität oder an einem Forschungsinstitut befristet arbeiten wird. Das Wien Museum ist ja eine wissenschaftliche Anstalt. Ich habe Matti (Bunzl) mit dem damaligen Finanzdirektor Christian Kircher also auf Skype kennengelernt. Zoom gab es ja noch nicht. Und die auf zwei Jahre befristete Stelle bekommen.

 

Und aus den zwei Jahren sind mittlerweile sieben geworden?

Ja. Als ich promoviert habe, habe ich zwei Jahre in Berlin gelebt. Dort habe ich meinen Mann, Armin, kennengelernt. Wir haben dann in New York gelebt, aber wir wollten immer gerne wieder nach Europa. Nach zwei Jahren wurde ich Leiter der Vermittlung des Wien Museums.

 

Hattest Du Deutsch schon in den USA gelernt?

Als ich promoviert habe, musste man für Kunstgeschichte Deutsch und auch Französisch lernen, weil die Hauptliteratur für westliche Kunst - und mein Promotionsfach war Niederländische Kunst - in diesen Sprachen geschrieben wurde. Zum Beispiel Erwin Panofsky oder Johann Joachim Winckelmann. Später in Berlin, als ich Armin kennengelernt habe, ein wenig mehr, und so richtig dann hier in Wien.

 

Warum bist Du Vermittlungsleiter und nicht Kurator geworden?

Ich wollte nie Kurator werden. Ich wollte immer in der Vermittlung arbeiten und hätte es früher schon ein Studium wie Museum Studies gegeben, hätte ich das studiert. Also habe ich mich selber weitergebildet, in Fachliteratur eingelesen und bin mittlerweile Herausgeber des Journal of Museum Education. Ich interessiere mich vor allem dafür, wie Besucher:innen eine spannende Erfahrung im Museum haben können, obwohl ich immer noch Kunst liebe.

 

Und Du unterrichtest auch.

Ja, regelmäßig mit Matti Bunzl an der Central European University, „Making History Public“, ein wenig ein How-to der Museumsarbeit, Vermittlung ist nur ein Teil davon. Und alle zwei Jahre oder so an der Kunstgeschichte an der Uni Wien, hier geht es wirklich rein um Vermittlungsarbeit.

 

Was gibst Du Deinen Student:innen mit auf den Weg? Worauf kommt es heute in der Vermittlungsarbeit an?

Es geht heute ganz stark um Partizipation, um Zusammenarbeit mit vielen Gruppen. Nicht mehr nur um Wissenstransfer. Das Museum soll so offen, zugänglich und inklusiv wie möglich sein. Das zu ermöglichen, ist unsere Aufgabe. Zudem sollen sich die Studierenden auch kritisch mit der Geschichte der Vermittlung auseinandersetzen.

 

Welche Standardlektüre empfiehlst Du dafür?

„Teaching in the Museum“ von Rika Burnham und Elliott Kai-Kee, hier geht es darum, wirklich eine Kunsterfahrung zu schaffen und nicht nur einzelne Aspekte zu vermitteln. Alles von John Dewey, vor allem „Art as Experience“. Carmen Bosch ist eine sehr wichtige Denkerin in der Schweiz, oder auch die Publikationen von Stefan Weil oder Nina Sermon. Außerdem gibt es neue, sehr gute Literatur zu Diversity, Equity, Inclusion und Access (DEIA, Diversität, Fairness, Inklusion, Zugänglichkeit)). Ich bin auch der Editor in Chief des Journal of Museum Education, wo wir viermal im Jahr neue, spannende Vermittlungsliteratur veröffentlichen - das Journal empfehle ich natürlich immer.  Was heute wirklich spannend ist, ist, dass sich die Grenzen zwischen kuratorischer Arbeit und Vermittlungs- bzw. Community-Arbeit auflösen. Es fängt an, sich wirklich gut zu vermischen. Es gibt jetzt eine viel stärkere Zusammenarbeit.

 

Wie in der Konzeption der neuen Dauerausstellung?

Genau, und das ist so extrem wichtig. Wir sind überall dabei, denken von Anfang an mit und tragen unsere Expertise bei. Das war früher ganz anders. Nur so kann die Offenheit, die Inklusion aller unserer Besucher:innen gelingen. Nur so, durch die Zusammenarbeit der verschiedenen Abteilungen, kann sich das Profil eines Museums formen.

 

Und Ihr seid ja alle studierte Kunsthistoriker:innen oder Historiker:innen.

Ja, oder anderes. Ein Masterstudium haben alle. Aber wir sind nicht Expert:innen für alles, deswegen setzen wir auch gerade in der Vorbereitung des neuen Museums auf Fokusgruppen. Hier kommt jetzt die Community-Arbeit ins Spiel. Das heißt, wir treffen uns mit Gruppen und befragen sie, was sie sich von einem Museum wünschen. Zum Beispiel trifft sich meine Kollegin Susan Plawecki gemeinsam mit anderen Kolleg:innen aus der Vermittlung gerade regelmäßig mit Mitarbeiter:innen von Jugend am Werk und entwickelt gemeinsam mit ihnen Programme. Diese Zusammenarbeit ist total wichtig.

 

Ja, und nochmal zurück zu den Besucher:innen. Ich sehe Euch als eine Art Sprachrohr des Publikums in die Abteilungen hinein.

Genau, wir haben Vermittler:innen, die seit zwanzig Jahren durch die unterschiedlichsten Ausstellungen und Standorte geführt und Workshops mit Familien oder Senior:innen gehalten haben. Sie wissen, welche Fragen immer wieder gestellt werden, was den Besucher:innen wichtig ist. Und wenn wir unsicher sind, dann holen wir uns eben von Partner:innen, von Gruppen aus der Bevölkerung, Hilfe.

 

Zum Thema Inklusion: Jennie (Schellenbacher) hat im Gespräch gemeint, dass Großbritannien hier eine große Vorreiterrolle hat. Wie ist das mit den USA?

Im Museumsbereich absolut, hier war das Thema weit früher als in Österreich angekommen. Diversity, Equity, Inclusion, Accessibility sind zentral heute. Was jetzt nicht unbedingt für die Gesellschaft in Amerika grundsätzlich gilt. Hier gibt es bekannterweise auch ganz stark gegensätzliche Bewegungen. Die Gesellschaft ist sehr gespalten.

 

Accessibility bedeutet aber nicht, dass es definierte Bereiche für Menschen mit Behinderungen gibt?

Im Gegenteil, jeder Bereich soll soweit als irgend möglich für alle zugänglich sein. Es soll keine Stigmatisierung geben in dem Sinne: Schau, hier darfst Du mit Deinem Rollstuhl stehen. Und ganz wichtig ist, dass man sich wohlfühlt, dass die Atmosphäre stimmt. Und dass wir offen sind für Feedback. Bereit, immer wieder neu zu denken, uns zu verändern. Wir werden mit unseren Angeboten nie fertig sein, es wird immer etwas zum Verbessern geben.

 

Beim genauen Schauen auf Menschen mit besonderen Bedürfnissen: Besteht da die Gefahr, Menschen ohne besondere Bedürfnisse zu übersehen?

Nein gar nicht, und das hat auch nichts miteinander zu tun. Es geht immer darum, alle mitzudenken. Ein Familienprogramm zu entwickeln, wo sich die mobil eingeschränkte Großmutter mit dem kletterfreudigen sechsjährigen Enkel genauso wohl fühlt wie der 35-jährige Patchwork-Papa. Wir werden Programme für viele verschiedene Menschen anbieten. Und sie so gestalten, dass möglichst alle Sinne angesprochen sind. Privat kann natürlich auch eine Führung speziell für sehbehinderte Menschen organisiert werden. Wir müssen sehr flexibel sein.

 

Ist Gender auch Thema?

Jein würde ich sagen. Es ist egal, ob ich als homo- oder heterosexueller Mann oder queere Person eine Führung mitmache. Ich, als schwuler Mann, interessiere mich nicht nur für „gay history“. Aber wir versuchen immer, Gender und Gender Identity mitzudenken, nicht nur thematisch, sondern auch in der Sprache, die wir verwenden. Zum Beispiel, wenn wir über Familienprogramme reden, dann definieren wir Familie nicht über Papa-Mama-Kind, und wenn wir mit Kindern reden, fragen wir nicht, was macht Dein Papa, Deine Mama, sondern: Was machen die Eltern, mit denen Du wohnst. Wir beschreiben unsere Diversity, Equity, Inclusion, Accessibility-Arbeit darüber, dass wir anti-abelist (nicht-diskriminierend), anti-homophobia (anti-homophob) sein möchten. Uns muss immer bewusst sein, dass wir die Welt so erleben, aber ein anderer oder eine andere ganz anders.

 

Und dann gibt es noch das Thema Toilettenbeschriftung.

Auch hier machen wir ein Angebot, wo jeder und jede selber entscheiden kann, welche Toilette verwendet wird. Es wird dazu keine Männer- und Frauen-Beschriftung geben, sondern wir werden voraussichtlich mit Symbolen, was in dem jeweiligen Ort zu finden ist, arbeiten. Ich habe keine Sorge, dass nicht jeder und jede finden wird, was er oder sie sucht.

 

Nochmal grundsätzlich gefragt: Was ist einem Menschen, der öfter ins Museum geht, wichtig?

Ich glaube, es ist wichtig, eine schöne Erfahrung gemacht zu haben. Dabei wäre es total gut, dass, wenn es klappt, wie jetzt angedacht, die Dauerausstellung gratis ist. Dass alle in Wien Lebenden oder Wien Besuchenden, die am Karlsplatz vorbeikommen, einfach reinschauen können und sei es mit einer Führung oder selbständig mit einem Audioguide oder dem neuen Digitalen Guide durch die Ausstellung gehen. Oder einfach nur die Wandtexte lesen. Oder nur zehn Minuten zum Lieblingsobjekt schauen, weil sie sich nicht sattsehen können. Oder nur, um Kaffee auf der Terrasse zu trinken. Sich im Museum wohlfühlen, das ist so wichtig. Dann kommst Du auch wieder.

 

Ich gehe auch gerne in eine Ausstellung, um etwas Neues zu erfahren, etwas Neues zu lernen.

Das natürlich auch. Zusätzlich zur dichten Ausstellung über die Geschichte der Stadt werden wir Vorträge haben, Diskussionen und natürlich jede Menge thematischer Führungen. Aber auch zum Beispiel Tanzworkshops, denn auch über die anderen Sinne kannst Du viel lernen und erfahren. Es gibt viele Zugänge zur Kunst und zur Geschichte. Wir müssen einfach so viel anbieten, an Programm, aber auch an Freiraum, dass sich alle etwas finden.

 

Mit der Konzeption der Programme seid Ihr schon fertig?

Die Schulprogramme sind zu 80 Prozent fertig. Obwohl, fertig wird wohl nichts sein, wir wollen sie ja auch immer wieder anpassen. Wir werden etwa 15 Workshops anbieten können. Thematisch oft zeitübergreifend. Wir besprechen ‚Wer schreibt Geschichte‘, denken über Antidiskriminierung nach, reden über Gender. Wir werden auch das mittelalterliche Wien oder Wien in der Römerzeit als Themen haben, aber immer unter einer bestimmten Fragestellung.

 

Wir bieten die Schulprogramme nach Altersgruppen an?

Ja, wir haben viel Programm für Volksschulen – das Wien Museum steht ja quasi im Lehrplan -- für Mittel- und Oberstufen, aber auch spezielle Angebote für berufsbildende Schulen. Wir stimmen hier die Programme mit unserem Lehrerbeirat ab. Wir haben aber auch angepasste Programme für Kinder mit Beeinträchtigungen.

 

Und wie sieht es mit Kindergärten aus?

Das diskutieren wir noch. Wir werden jedes Wochenende ein starkes Familienangebot haben und sind in den Sommermonaten beim Ferienspiel dabei. Für die Familien haben wir verschiedene Reihen, mit Musik, Malen, Kunstgeschichte, Tanz und Theater, Philosophie und Gesellschaft. Die Workshops dauern mindestens zwei Stunden, aber wir möchten auch ein Drop-in, also einen laufenden Einstieg anbieten.

 

Und für Erwachsene?

Vorwiegend am Wochenende viele, sagen wir klassische Führungen, und zwei, drei Programme speziell für Senior:innen. Für Menschen, die nicht mehr so mobil sind. Wir möchten auch gerne Programme am Abend anbieten, aber das hängt noch von vielen anderen, strukturellen Bedingungen ab.

 

Wird es Angebote rein im Atelier geben?

Eher nicht. Wir möchten schon immer vor dem Objekt beginnen, die Sammlung immer miteinbeziehen. Beziehungen zur Geschichte zu schaffen, finde ich ganz wichtig.

 

Schafft Ihr es dann noch, auch die Außenstellen zu bespielen?

Der Fokus liegt sicher im Eröffnungsjahr auf dem Karlsplatz, aber einmal im Monat werden wir auch in einer Außenstelle Programm für Familien anbieten. Und selbstverständlich werden wir weiterhin Schulprogramme im Römermuseum, Uhrenmuseum usw. anbieten. Es wird auf alle Fälle nicht langweilig.

 

Welche Sprachen werden wir anbieten können?

Deutsch und Englisch ist klar. Ich halte es auch für ganz wichtig, BKS (Bosnisch-Kroatisch-Serbisch), Türkisch und Arabisch anzubieten.

 

Und nicht Chinesisch und Japanisch?

Für mich ist es wichtig, dass wir die Sprachen der Stadt, also der großen Bevölkerungsgruppen, anbieten. Für die Sprachen der Tourist:innen, darauf zielte doch Deine Frage ab, gibt es ja noch zusätzlich die Fremdenführer:innen, mit denen wir die Zusammenarbeit noch intensivieren möchten. Wir haben aber auch Kolleg:innen, die italienisch und französisch und spanisch führen können.

 

Behalten wir die Programme „Wien Museum geht in die Schule“ und „Wien Museum aus der Ferne“?

Ja, aber ersteres nicht mehr so breit wie jetzt. Ich finde es auch ganz wichtig, als Kind die Erfahrung zu machen, in ein Museum zu gehen. Zu wissen, das ist mein Museum, da kann ich immer rein. Aber mit „Wien Museum geht in die Schule“ kommen wir auch in Schulen, die sehr weit weg sind. Das möchten wir beibehalten. „Wien Museum aus der Ferne“ möchten wir sogar noch weiter ausbauen. Hängt natürlich alles von der Personalkapazität und vom Budget ab.

 

Ist es schwer, Jugendliche ohne die Organisation durch die Schule ins Museum zu locken?

Ja, nach der Schule reißt der Kontakt oft ab. Klar wäre es wahnsinnig cool, wenn 16-Jährige alleine ins Museum kommen würden. Und manche tun das ja auch. Aber ich habe volles Verständnis, wenn es eine Zeit im Leben gibt, wo anderes einfach viel wichtiger ist. Viele versuchen die Gruppe der Studierenden oder Young-Professionals um die 25 zu erreichen. Einige haben das geschafft, mit Angeboten wie dem „Kunstschatzi“ im KHM. So etwas würde ich mir für‘s Wien Museum auch wünschen. Quiz-Nights würden gut passen, finde ich.

 

Apropos Personal: Wie viele Mitarbeiter:innen hast Du gerade?

Rund 15, aber die Abteilung wird und muss sich noch vergrößern.

 

Was brauchen die Besucher:innen noch zum Wohlfühlen?

Sitzmöbel. Viele Sitzgelegenheiten. Und dass die Toiletten einfach zu finden sind, wie auch etwas nicht zu Teures zum Essen und Trinken. Oder dass es einen Ort gibt, an dem man etwas Mitgebrachtes verzehren darf. Überhaupt Platz haben. Und es darf überall nicht zu laut sein. Die Besucher:innen dürfen nicht überfordert werden.

 

Worauf freust Du Dich persönlich im neuen Museum?

Ich freue mich total auf die Ateliers. Lange hab‘ ich mir nicht vorstellen können, wie sie aussehen werden, aber jetzt, wenn Du auf der Baustelle in diesem offenen, großen Fugengeschoss stehst, dann wird das schon ganz real. Super, dass die Vermittlung so zentral sein wird, nicht irgendwo im Keller… So ein toller Platz zum Arbeiten.

 

 

 

Nathaniel Prottas, 1980 in Cambridge Massachusetts geboren, in Lexington aufgewachsen. 1999 bis 2003 Studium der Kunstgeschichte an der University of Chicago, anschließend Masterstudium in London. Nach dem Studium arbeitete er in New York für den Modedesigner Marc Jacobs, war Slifka Foundation Interdisciplinary Fellow am Metropolitan Museum of Art, absolvierte das Samuel H. Kress Interpretive Fellowship an der Frick Collection und wurde Leiter der Vermittlung am Museum of Biblical Art. 2015 promovierte er in Kunstgeschichte an der Universität Philadelphia, wo er auch Filmgeschichte studierte. Für eine zweijährige Postdoc-Stelle kam er an das Wien Museum. Hier wurde er 2017 Leiter der Abteilung für Vermittlung, Bildung und Besucherservice. Er unterrichtete Vermittlungsarbeit am Hunter College in New York, an der Technischen Universität Dortmund, an der Masaryk Universität in Brünn sowie in Wien an der Universität Wien und der CEO.

 

Als Leiter der Vermittlung ist Nathaniel Prottas in die Planung der neuen Dauerausstellung sowie in alle Aspekte des Besucherservices eingebunden und entwickelt mit seinem Team die entsprechenden Vermittlungsprogramme.

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