Vorgestellt 42 │ September 2022
Mit 36 Jahren gehörst Du zu der jüngeren Kurator:innen-Generation. Wie definierst Du Deine Aufgabe, was ist Dir wichtig?
Ich bin sogar die Jüngste. Die Aufgaben sind sehr vielfältig, das macht gerade den Reiz aus. Dass man sich auf ganz verschiedenen Ebenen mit den Objekten beschäftigt. Bewahrt und erforscht, was man hat, Lücken füllt, wenn etwas fehlt. Wichtig finde ich den Kontakt und Austausch mit anderen Forscher:innen, die sich mit Stadtgeschichte beschäftigen. Hier geht es zum einen darum, sich ein gutes Netzwerk aufzubauen, auf das man bei Fragen zurückgreifen kann. Zum anderen hilft es, beim Vermitteln von Wissen über die Vergangenheit auf dem neuesten Stand der Forschung zu sein.
Nathaniel (Prottas, Leiter der Vermittlung) hat vor kurzem erzählt, dass heute die Kurator:innen viel enger mit der Vermittlung zusammenarbeiten.
Die Weitergabe von Wissen an das Publikum, die Verknüpfung der Objekte mit unserer historischen Vergangenheit, finde ich immens wichtig. Ich weiß jetzt natürlich nicht aus eigener Erfahrung, wie es früher war, aber heute ist die Vermittlung sehr präsent in meinem Tun. Für Kapitel 5 der neuen Dauerausstellung, das sich mit der Zweiten Osmanischen Belagerung von 1683 beschäftigt, arbeitete ich beispielsweise bei der Erstellung von Inhalten eng mit Pia Razenberger aus dem Vermittlungsteam zusammen. Und das macht großen Spaß, wir ergänzen uns dabei wunderbar.
Du bist vor zwei Jahren als Nachfolgerin von Walter Öhlinger an das Wien Museum gekommen. Wie kam es dazu?
Eigentlich habe ich neben Geschichte noch Archivwissenschaften studiert und meine Zukunft im Archiv, nicht im Museum gesehen. Dort geht es darum, das auch für die Zukunft wichtige Schriftgut der Stadtverwaltung zu übernehmen, zu erschließen und zu bewahren. Man beschäftigt sich dabei natürlich auch mit Stadtgeschichte, aber ausgehend vom Schriftgut und nicht von Objekten. Ausstellen und Vermitteln ist dort, wenn überhaupt, nur ein Nebenaspekt.
Und warum hast Du Dich dann für das Wien Museum beworben?
Mein eigener Forschungsschwerpunkt war oder ist eben die Wiener Stadtgeschichte in der Frühen Neuzeit, also vom 16. bis zum 18. Jahrhundert. Und als ich von der ausgeschriebenen Kuratorenstelle mit Schwerpunkt auf diesem Zeitraum am Wien Museum erfuhr, musste ich es einfach probieren.
Hast Du alle Sammlungsschwerpunkte von Walter Öhlinger übernommen? Politische Geschichte und Stadtchronik vor 1918, Rechtswesen vor 1918 sowie das Bürgerliche Zeughaus?
Ja, genau, ich habe seine Sammlungsbereiche übernommen. Und weil es mein bisheriger Forschungsschwerpunkt war, auch den Bereich Fürsorge und Gesundheitswesen in diesem Zeitraum.
Was ist denn so interessant an dem Thema Fürsorge und Gesundheitswesen von 1500 bis 1918?
Wie eine Gesellschaft mit Bedürftigen umgeht, sagt ja sehr viel über sie aus. Es geht beispielsweise darum, welche Institutionen sich im Laufe der Geschichte um Arme und Kranke gekümmert haben, und wie sich das vom Mittelalter ausgehend verändert hat. Zuerst gab es vor allem „Versorgungsallrounder“, in denen Alte, Kranke, Schwangere, Kinder usw. versorgt wurden. Auch wenn man sie oft Spitäler nannte, sind sie deshalb nicht mit den heutigen Krankenhäusern gleichzusetzen. Dann hat man die Gruppen zunehmend getrennt versorgt. Joseph II. setzte diese Entwicklung dann in den 1780er Jahren mit seinen umfangreichen Reformen gezielt um und schuf das Allgemeine Krankenhaus, das Gebärhaus, das Findelhaus und den sogenannten Narrenturm für die psychisch Kranken. Staatliche Einrichtungen haben die Einrichtungen der Stadt, wie das Bürgerspital, ersetzt.
Apropos bürgerlich: Wie geht es Dir mit dem Bürgerlichen Zeughaus, der militärischen Waffensammlung?
Ich hätte mir nie im Leben gedacht, dass ich mich einmal mit Waffen und Rüstungen beschäftige. Ich arbeite mich hier gerade intensiv ein, auch weil es in der neuen Dauerausstellung eine Rolle spielt. Bereits im Kapitel 3, dem Mittelalter, kommen ein Rossharnisch und Herrscherrüstungen, also Prunkharnische, die wohl Geschenke an die Stadt waren, vor. Und die Beschäftigung mit Waffen und Rüstungen ist überraschend spannend, weil so viel Alltags- und Sozialgeschichte und die Verbreitung von Techniken und Wissen in ihnen steckt. Im 17. Jahrhundert war zum Beispiel die Zischägge hierzulande die typische Kopfbedeckung für den Reiter. Das trugen Reitersoldaten unter anderem im Einsatz gegen die Osmanen. Genau von den Osmanen hatte man sich aber diese Art der Kopfbedeckung abgeschaut.
Weil sie guten Schutz bot?
Genau, sie bot einen guten Schutz für den Kopf und hatte zudem auch Ohrenklappen und einen Nackenschirm. Wahrscheinlich entsprach sie aber auch einfach den modischen Vorlieben der damaligen Zeit.
Weißt Du, wie viele Objekte zu Deinem großen Sammlungsbereich gehören?
Ich hab‘ keine Ahnung, ich kann das nicht ansatzweise schätzen.
Du hast eingangs vom Füllen der Sammlungslücken gesprochen. Hattest Du jüngst interessante Ankäufe oder Schenkungen?
Gemeinsam mit Martina Nußbaumer, die unter anderem für Firmengeschichte vor 1918 zuständig ist, habe ich eine sehr schöne Sitzwaage aus der Zeit um 1900 aus einer Apotheke übernommen. Sie war für Menschen gedacht, die aus verschiedenen Gründen nicht auf einer Waage stehen konnten. Sie war noch bis ungefähr 2000 in Verwendung.
Walter Öhlinger hat für vier Kapitel der neuen Dauerausstellung – Kapitel 4+5: Residenz- und Festungsstadt 1526 bis 1683 sowie die Osmanische Belagerung 1683, gemeinsam mit Michaela Kronberger, Kapitel 6+7: Barock und Aufklärung (1683 - um 1790) und Franzosenkriege bis zur bürgerlichen Revolution (um 1790-1848) gemeinsam mit Elke Doppler, siehe Interview - gearbeitet. Wo bist Du nun eingestiegen, was machst Du gerade?
Ich habe von Walter Öhlinger alle Zuständigkeiten übernommen. Momentan bin ich gerade viel mit Kapitel 5, der Zweiten Osmanischen Belagerung beschäftigt. Hier spielt das Zeughaus auch wieder eine große Rolle. In diesem Kapitel wird aber auch eine ganz wichtige Frage gestellt, nämlich: Wer schreibt Geschichte? Was wird erzählt, was nicht?
Was erzählt denn, kurzgefasst, die Geschichte der Zweiten Osmanischen Belagerung?
Zunächst war gar nicht klar, dass Wien das Ziel der osmanischen Armee unter Großwesir Kara Mustafa sein würde. Man hat dann sozusagen in letzter Minute noch versucht, die Stadt so gut wie möglich zu sichern. Ähnlich wie wohl Russland in der Ukraine, hatten die Osmanen damit gerechnet, schneller Erfolge zu haben. Aber auch nach fast zwei Monaten war die Stadt noch nicht erobert, die Osmanen standen jedoch wahrscheinlich kurz davor. Buchstäblich in letzter Minute kam dann aber ein Heer an Verbündeten, das sogenannte Entsatzheer, der Stadt zu Hilfe und konnte die Eroberung Wiens durch die Osmanen verhindern.
Und was wird nicht erzählt?
Immer wenn es um 1683 ging, wurden Waffen und Ausrüstungsgegenstände ausgestellt, die die Verteidiger verwendet haben sollen. Und die sogenannte Türkenbeute. Dabei wissen wir gar nicht genau, was auf Seite der Verteidiger wirklich im Einsatz war und wir wissen auch nicht, ob die osmanischen Objekte aus dem Zeughaus wirklich alle Beutestücke waren. Was wir aber mit Sicherheit wissen ist, dass sie nicht 1683 erbeutet wurden. Die Geschichte der Objekte ist also meist nicht so eindeutig. Auch wird in der Regel nur von den berühmten Persönlichkeiten aus der Zeit berichtet. Wie von Kara Mustafa. Wir möchten aber auch erzählen, was die Belagerung für die einzelnen Bewohner:innen Wiens bedeutet hat. Was für den einfachen Soldaten – auf beiden Seiten. Darüber hinaus muss 1683 in einen größeren Kontext eingebettet werden: Auch wenn die Kriegszeiten in der Erzählung bisher immer im Vordergrund standen, die Friedenszeiten mit dem Osmanischen Reich waren viel länger. Es gab vielfältige Beziehungen zwischen den beiden Reichen jenseits des Krieges.
Hat die Osmanische Belagerung heute noch Brisanz?
Auf alle Fälle. Deswegen muss man mit dem Thema auch sehr sensibel umgehen. Noch heute finden am 12. September, dem Datum der sogenannten Entsatzschlacht, Gedenkfeierlichkeiten am Kahlenberg statt. Von der politischen Rechten werden die Ereignisse von 1683 immer wieder herangezogen, um vermeintliche Parallelen zu aktuellen Entwicklungen und Geschehnissen im Bereich der Migration und Integration herzustellen.
Hast Du auch noch in den anderen Kapiteln zu tun?
Ja, überall ist noch einiges zu tun. Momentan geht es vor allem um die Inhalte der AV-Stationen, also alles, wo man sich etwas anhören oder etwas über einen Bildschirm erfahren kann.
Was darf denn ein Objekttext auf keinen Fall?
Zu viele Inhalte tragen, zu komplex sein. Für mich ist es etwas Neues, Texte für Ausstellungen zu schreiben. Die funktionieren völlig anders als wissenschaftliche Texte. Sie müssen einfach verständlich sein, aber inhaltlich trotzdem stimmen. Es gibt beinharte Zeichenvorgaben. In 650 Zeichen, das ist die maximale Länge der Objekttexte, kann man keinen hochkomplexen Zusammenhang schildern. Man muss sich genau überlegen, was man vermitteln möchte und das auf den Punkt bringen.
Wo kommt Dein Spezialgebiet, das Gesundheitswesen, vor?
Zum Beispiel im Kapitel 4 gibt es einen eigenen Bereich zum Thema Pest. Und in Kapitel 6 zur Armen- und Krankenversorgung mit der Entwicklung hin zu spezialisierten Institutionen, die ich oben skizziert habe.
Du kommst aus Salzburg, hast aber in Wien studiert und sicher auch die Diskussionen über den Umbau des Wien Museums verfolgt.
Ich finde es absolut gut, dass das Museum am Karlsplatz bleibt. Es ist einfach ein Teil des Platzes und seiner Geschichte. Mir gefällt auch, wie es jetzt umgebaut wird. Freue mich total auf die Aussichtsterrasse.
Und dann gibt es ja darüber das 4. Obergeschoss für die Sonderausstellungen. Wenn Du Dir ein Ausstellungsthema wünschen könntest, welches wäre das?
Ich würde gerne eine Ausstellung zum Bereich Armen- und Krankenversorgung vom Mittelalter bis heute machen. Es ist spannend sich anzuschauen, wie mit Bedürftigen durch die Jahrhunderte umgegangen wurde. Auch: Wie hat man gebaut? Das sogenannte Pavillonsystem wie etwa bei der Klinik Penzing, dem ehemaligen Otto-Wagner-Spital, war ja lange das vorherrschende Krankenhaus-Modell. Auch das ehemalige Kaiser-Franz-Josef-Spital, heute Klinik Favoriten, hat einzelne Gebäude mit Grünflächen herum. Später wurden dann solche Riesenkomplexe wie das neue AKH gebaut. Für die Arbeitsabläufe sicher einfacher, aber ob auch für die Patient:innen besser? Die Pavillons wurden auch deswegen gebaut, weil man der Annahme war, dass Krankheiten vorwiegend über die Luft übertragen werden und diese zwischen den Gebäuden, auf einer Anhöhe am Rande der Stadt stehend, besser zirkulieren kann. Ist ja heute auch wieder topaktuell.
Dann könnest Du in der Ausstellung auch die neue Sitzwaage ausstellen. Wenn Ende 2023 die Besucher:innen dann in die neue Dauerausstellung zur Geschichte Wiens kommen, was sollen sie erleben, was mitnehmen?
Es wäre schön, wenn sie richtig in die Geschichte der Stadt eintauchen könnten, sich sogar ein wenig verlieren. Und viele Anknüpfungspunkte an ihr eigenes Leben finden. Das Heute durch den Blickwinkel der Vergangenheit reflektieren, und durch die Vergangenheit auch zu sehen, was heute gut läuft und was noch zu verbessern ist.
Sarah Pichlkastner, geboren 1986 in Oberndorf bei Salzburg; Diplom- und Doktoratsstudium Geschichte in Wien und Tours; Masterstudium „Geschichtsforschung, Historische Hilfswissenschaften und Archivwissenschaft“ in Wien; 2013–2017 Projektmitarbeiterin am Institut für Österreichische Geschichtsforschung der Universität Wien; 2016–2020 Projektmitarbeiterin am Institut für Realienkunde des Mittelalters und der frühen Neuzeit der Universität Salzburg in Krems; 2019/20 Anstellung im Stadtarchiv Baden; seit 2020 Kuratorin im Wien Museum für den Sammlungsbereich 1500 bis 1918.
Für die neue Dauerausstellung kuratiert sie, gemeinsam mit Kolleg:innen, die Kapitel 4+5: Residenz- und Festungsstadt 1526 bis 1683 sowie die Osmanische Belagerung 1683 und Kapitel 6+7: Barock und Aufklärung (1683 - um 1790) und Franzosenkriege bis bürgerliche Revolution (um 1790-1848).